Entfesselungskünstler
Andrés Orozco-Estrada, Filarmónica Joven de Colombia
sowie Katia und Marielle Labèque
»War es zu viel? War ich zu viel?«, fragt nach manchen Konzerten seine
Frau. Denn er könne von null auf hundert aufdrehen wie ein Ferrari. Es
gebe Orchester, die das überfordert, erklärt der Dirigent. Die Filarmónica
Joven de Colombia gehört ganz gewiss nicht dazu. Im Gegenteil:
Das kolumbianische Jugendorchester läuft unter seinem Chefdirigenten
zur Hochform auf, wenn es mit neuen Werken aus Lateinamerika
den Funken überspringen lässt. Etwa 2019 beim stürmisch gefeierten
Konzert in der Kölner Philharmonie. Wasserpfeifen- und Schneckenhornbläser
positionierten sich damals zwischen die Besucherinnen
und Besucher, die auf Blockflöten mitspielen durften. So wird Neugier
auf die komplexen Rhythmen Südamerikas geweckt, in der jedes Land
ein eigener musikalischer Kontinent ist. Dies zeigt nun auch das Werk
»Travesía« des Argentiniers Wolfgang Ordoñez, das in die Ebenen um
den Fluss Orinoco entführt. Hier sind nicht nur Tapir, Jaguar und Ameisenbär,
sondern auch 350 Vogelarten zu Hause. »Pajarillo «– Vögelchen
– heißt denn auch das Finale dieses mitreißenden Stücks, das im Stil
des Joropo komponiert ist, eine traditionelle Tanzform Venezuelas, in
die spanischer Barock, Flamenco, afrikanische Rhythmen und die Folklore
der Landbevölkerung eingeflossen sind.
Zum Siedepunkt wird Orozco-Estrada das Orchester gewiss auch mit
»Petrushka« bringen, wenn er Strawinskys Jahrmarktpuppe entfesselt.
Bei solchen Gelegenheiten fliegt ihm schon mal der Fiberglasstab ins
Orchester. »Ein gutes Zeichen; es bedeutet, dass ich nicht verspannt
bin«, meint der 44-Jährige. Schon als Kind hat er den Taktstock im
Wohnzimmer geschwungen, montierte dazu die Antenne vom Fernseher
ab: »Ich war ganz verrückt aufs Dirigieren.« Geboren ist Andrés
Orozco-Estrada in Medellín, seinerzeit als Zentrale der Drogenkartelle
eine der gefährlichsten Städte der Welt. Und zugleich gebe es hier »so
viele Farben, so viele glückliche Menschen, so viel Energie«, wie der
Künstler sagt. Das hat ihn geprägt, hat ihm Bodenhaftung gegeben, als
es ihn von zu Hause in das europäische Musikzentrum Wien zog.
Kein Mentor, kein Stipendium, kein Wettbewerb haben ihm damals den
Weg geebnet. Im Mozart-Kostüm verkaufte der junge Mann zeitweise
sogar Konzertkarten an Touristen, um sein Studium zu finanzieren. »Ich
bin kein besonderes Talent, kein Genie«, behauptet der Maestro, doch
das sehen Orchester wie die Berliner oder Wiener Philharmoniker, mit
denen er zusammenarbeitet, ganz anders. Er sei ein »begnadeter Motivator
«, beherrsche jedes Detail, ohne ein Kontrollfreak zu sein, hieß es
nach einem Konzert in Köln, das ihn gern als Generalmusikdirektor gewonnen
hätte, doch der Kolumbianer winkte ab, nahm Chefpositionen
in Houston und am Pult des Hessischen Rundfunksinfonieorchesters
an, von dem er sich jüngst verabschiedete, um zu den Wiener Symphonikern
zu wechseln. Was den Dirigenten so anziehend mache, so
die Kritik nach dem letzten Konzert in Frankfurt, sei »die Verbindung
aus tänzerisch vergnügter Leichtigkeit und bedingungsloser Perfektionssuche
«.
Solche Qualitäten kann man auch Katia und Marielle Labèque attestieren,
die seit fünf Jahrzehnten das Musikleben mit ihrem virtuosen
Stil bereichern. Das perkussive Element spielt eine große Rolle bei den
beiden Französinnen, die für das Genre des Duos an zwei Klavieren Pionierarbeitet
geleistet haben, beginnend mit Gershwins »Rhapsody in
Blue«. Spektakulär auch ihre Version von Ravels »Boléro«, die sie zu den
eigenen Wurzeln führte. Aufgewachsen sind die Schwestern nämlich in
Hendaye im Baskenland, nur wenige Kilometer entfernt vom Geburtsort
Maurice Ravels. Ihre Mutter Ada Cecchi lernte einst bei der berühmten
Pianistin Marguerite Long, die mit dem Komponisten befreundet war.
Wie die jungen Kolleginnen und Kollegen aus Kolumbien zielt das Geschwister
Duo mit zeitgemäßen Konzert-Formaten darauf, den Kreis
der Klassikfans zu erweitern. Frischen Wind bringen sie auch mit neuen
Werken ins Repertoire. So gaben sie beim Argentinier Gonzalo Grau
eine Adaption der Markus-Passion seines Landsmanns Osvaldo Golijov
in Auftrag. Es trägt den Titel »Nazareno« und ist in seinem jazzigen Drive
bei den Solistinnen und ihren jungen Orchesterbegleitern sicher in besten
Händen. Annette Schroeder
Katia und Marielle Labèque