EDITORIAL
»He, Theatergeher!
tu mal deine Zocke raus, wir brauchen dringend neue Drogen!«
Das sage nicht ich, das sagen die Penner im Stück JEFF KOONS von Rainald Goetz zu den Menschen, die aus dem
Theater strömen. Wenig später zeigen sie auf eine einsame Gestalt: »Was ist denn das? Der ist bestimmt ein Künstler,
sowas sehe ich, ich seh das gleich, dass das ein Künstler ist, das sieht man denen an. Ein Künstler, Gott, du liebe Güte,
Künstler. Was muss das nur für ein Leben sein?«
Die Bettelnden verachten den Künstler. Er ist vermutlich noch asozialer und ärmer dran als sie. Und vermutlich
arbeitet er auch weniger. Es ist alles eine Frage der Perspektive ...
In meiner Jugend konnte ich mir nie wirklich einen Beruf für mich vorstellen. Dass ich zum Theater wollte, war
vermutlich der Versuch, einer normalen, geregelten Arbeit zu entkommen. Oder anders gesagt, ich hatte in einem
Halbjahresjob bei der Bank erfahren, was es heißt, in der Hölle zu schmoren, und da wollte ich nie mehr wieder hin.
Das Theater war aus meiner Sicht ein Ort der Leidenschaft, der Exzesse und natürlich der Kunst. Große Kinder, die
nie erwachsen werden wollten, spielten merkwürdige Sachen, angefeuert von Weißwein und Exzentrik. Es kam mir
wie das Paradies vor. Ich hatte nie das Gefühl, dass da Arbeit geleistet wurde.
Erst Jahre später nach meiner ersten eigenen Produktion als Regisseur, die ich beglückend aber auch unglaublich
anstrengend gefunden hatte, sagte mir ein älterer Kollege: »Ja, am Anfang macht es noch Spaß, aber dann artet es
doch immer in Arbeit aus.«
Dass ich mich geirrt hatte mit meinem Arbeitsvermeidungsplan, hätte ich längst von einem sehr berühmten
Penner gelernt haben können, oder um es präziser zu sagen von einem Tramp namens Charlie Chaplin: Er ist immer
noch das Paradebeispiel dafür, wieviel Disziplin, Fleiß und Durchhaltevermögen es braucht, um die Dinge in diese
schwebende Leichtigkeit zu bringen, die den zeitlosen Zauber der Kunst ausmachen.
In seinem Film MODERN TIMES zeigt Chaplin, wie brutal und ausbeuterisch eine kapitalistische Hochleistungsindustrie
für die Beschäftigten sein kann. Er selbst gerät dabei förmlich unter die (Zahn-)Räder. Wir alle kennen
dieses ikonographische Bild: Der Tramp wird von der Maschine gefressen, an der er arbeitet, um sich sein Essen zu
verdienen.
Nach seiner Rettung aus den Innereien des technischen Monsters scheint Charlie seinen Verstand verloren zu haben.
Mit seinen Schraubschlüsseln läuft er Amok und malträtiert alles, was entfernt nach Muttern aussieht: Knöpfe,
Nasen, Brustwarzen ... aus dem beflissenen Arbeiter ist ein tollwütiger Anarchist geworden, ein kleiner Mann, der im
heiligen Zorn die große Maschine lahmlegt.
Nach rund 35 Jahren im Räderwerk des Theaters kann ich gelassen sagen: Das Theater ist mittlerweile ein Arbeitsort
wie andere auch. Manchmal ein hochgefahrenes Getriebe, das einen zu verschlingen droht und manchmal einfach
das schönste Betätigungsfeld der Welt. Es gibt jetzt verbindliche Verhaltensregeln, Arbeitszeitbegrenzung und ein
striktes Alkoholverbot während des Dienstes.
Das ist sehr gut. Ich finde es beruhigend, dass alle angehalten sind, ihre Arbeit nüchtern und professionell zu machen.
Es geht nicht anders.
Und dann fehlt es mir manchmal auch ein bisschen.
Das Gefühl, dass das Theater ein wüster Ort der Anarchie ist. Mit der ganzen zur Schau getragenen Ineffizienz, der
Lust an der Verschwendung, der Dekadenz, dem Dreck und dieser kindlichen Freude an der Unanständigkeit. Denn
das Theater soll doch auch ein Stachel im Arsch des Systems sein, eben das Gegenteil einer gut eingecremten Arbeitswelt.
Also – lasst uns achtsam sein und die Welt verbessern! Die Anarchie in unseren Köpfen aber möge weiter an der
Zerlegung unserer festgefahrenen Weltbilder arbeiten.
So auch in dieser Spielzeit, deren Dreiklang lautet: ARBEIT-RAUSCH-NATUR.
IHR STEFAN BACHMANN